Im Frühjahr 1998 kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson und wurde an der ersten Straßenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angekommen war, von einem Auto überfahren.
Ist Lesen lebensgefährlich? Bücher verändern das Schicksal der Menschen, fährt der argentinische Autor, der heute in Montevideo (Uruguay) lebt, fort. Auch wenn die Folgen nicht unbedingt dermaßen tragisch sein müssen wie im Fall der jungen Londoner Literaturdozentin. Das Schicksal, das den bibliophilen, ja bibliomanen Carlos Brauer ereilt hat, ist schon gravierend genug. Im Kern geht es bei der Erzählung um ihn.
Ich-Erzähler ist allerdings ein Kollege Bluma Lennons, der wissen will, was es mit dem Buch „Die Schattenlinie“ von Joseph Conrad auf sich hat, das kurz nach dem Tod seiner Kollegin ohne Absenderangabe verdreckt und mit Mörtelresten behaftet im Institut ankam. Adressatin: Bluma Lennon. Im Buchinnern eine von ihr geschriebene Widmung: „Für Carlos, als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey.“
Blumas Kollege, ein Argentinier, zieht seinen Heimaturlaub vor und macht sich zunächst in Buenos Aires auf die Suche nach diesem geheimnisvollen Carlos. Die Teilnehmerliste des Schriftstellerkongresses in Monterrey führt ihn erst zu einem Antiquar und darüber zu Delgado, einem leidenschaftlichen Büchersammler, der den auf der besagten Liste nicht vertretenen Carlos Brauer kennt. Oder muss man sagen: gekannt hat?
Delgado schildert einen von Büchern und vom Lesen geradezu besessenen Menschen, dessen Sammlung über 20000 Exemplare umfasste. Eine Nachlässigkeit Brauers beim nächtlichen Lesen bei Kerzenschein hatte verhängnisvolle Folgen – nein, nicht für die Bibliothek, die wie durch ein Wunder den Brand ziemlich schadlos überstand, sondern für das von Brauer – er wagte es z. B. nicht, zerstrittene Autoren im selben Regalfach unterzubringen – selbst entwickelte Katalogisierungssystem. Delgado:
Er hatte gerade den Überblick über seinen vollständigen Bestand verloren, und auch sein Gedächtnis schien sich nicht an die Gründe für das Einordnen in diesem oder jenem Regal erinnern zu wollen.
Schließlich zwangen Brauer die finanziellen Forderungen seiner Ex-Frau zum Verkauf seines Hauses. Er übersiedelte mitsamt seiner Bibliothek in eine Hütte an einem einsamen Strand in der Nähe von La Paloma. Blumas Kollege nutzt die letzten Tage seines Urlaubs, um die Spur aufzunehmen …
Ich habe niemandem zu berichten gewagt, was ich im Süden erlebt hatte, und wenn ich es jetzt zu Papier bringe, dann nur, weil ich es noch immer zu verstehen versuche.
Dominguez „Papierhaus“ ist eine wundervolle Erzählung, deren Sog sich Bücherliebhaber/innen kaum entziehen können. Sie ist betörend und – angesichts der Folgen, die maßlose Bücherleidenschaft auslösen kann – auch ein wenig verstörend und mahnend zugleich. Der Verlag hat das Bändchen sorgfältig ausgestattet: Einbandgestaltung, hochwertiges Papier und eine ausklappbare Landkarte auf transparentem Papier (Pergament?) machen aus dem „Papierhaus“ ein kleines bibliophiles Schmuckstück.
Das Papierhaus
von Carlos María Domínguez
Eichbon 2004, geb. Ausgabe, 96 Seiten
Herzlichen Dank, liebe Frau W., für Deine feine Besprechung! Noch ein paar Wochen, dann packen wir es ein und werden es lesen. Am Meer.
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Solange Ihr nicht Eure gesamte Bibliothek mitnehmt und dann am Meer damit so umgeht wie Carlos Brauer mit seiner, ist das eine gute Idee.
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Bücherburg statt Sandburg ; )
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Das Buch steht schon länger auf meiner Wunschliste. Du hast mich mit der Rezension noch mal dringend daran erinnert, dass ich es wirklich mal lesen sollte.
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Es lohnt sich, und bei knapp 100 Seiten ist man schnell „durch“.
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Das klingt nach einer schönen Buchgestaltung, liebe Ingrid. Ich besitze dieses wunderbare Büchlein leider nur als Taschenbuchausgabe, aber das tut der umwerfenden Erzählung ja keinen Abbruch.
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Ja, der Verlag hat sich bei der Gestaltung wirklich von seiner besten Seite gezeigt. Freut mich, dass Du von der Erzählung selbst auch so angetan bist.
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Eine wirklich sehr gute Erzählung ist das, liebe Ingrid, freut mich, dass sie dir auch so gut gefallen hat.
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Ah, Du kennst die Erzählung. Ja, das „Papierhaus“ gefällt mir inhaltlich wie sprachlich ausgezeichnet.
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Ja. Lesen verändern das Schicksal. Und gefährlich sind sie für die, die lieber von Gedanken unbehelligt durch die Welt gehen möchten. Eine feine kleine Rezension, die neugierig macht.
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Freut mich, dass meine Besprechung Interesse gefunden und neugierig gemacht hat.
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